Hochsensibilität – was ist das?
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Die perfekte Überforderung im Kopf. Jeden Tag prasseln Farben, Geräusche, Gerüche und weitere Reize auf uns ein. Eine Unmenge an Informationen also, die ein Gehirn normalerweise voneinander unterscheiden und filtern kann. Nicht etwa bei Menschen mit Hochsensibilität, kurz HSP. Ihnen fehlt in der Regel die Fähigkeit, die Umwelt so einzuordnen, dass alles richtig im Gehirn verarbeitet werden kann. In Deutschland sollen lt. Helmut-Schmidt-Universität schätzungsweise 15 bis 20 Prozent davon betroffen sein.

Es ist Partytime, Lisa und ihre Freundinnen treffen sich in einer Kneipe, wollen den Geburtstag einer Freundin feiern und fröhlich sein. Lisa hat sich sehr auf den Abend gefreut und gehofft, dass sie endlich mal wieder unbeschwert Zeit mit ihren Freundinnen verbringen kann. In letzter Zeit hatte sie sich eher zurückgezogen und ist wenig ausgegangen, weil sie, wenn sie gemeinsam weggingen, immer so schnell müde war und Kopfschmerzen bekam. Und immer die Spaßbremse sein, die so früh schlapp machte und nach Hause wollte, wollte sie dann auch nicht. Leider hält ihre Freude auch diesmal nicht lange. Kaum haben sie die Kneipe betreten und sitzen am Tisch, prasseln alle möglichen Geräusche auf Lisa ein: Alle Freundinnen reden gleichzeitig, an den Nachbartischen wird ebenfalls laut gesprochen, Gläser klirren, Damen mit Stöckelschuhen gehen zur Toilette, Teller klappern. Lisa muss sich sehr konzentrieren, dem Gespräch ihrer Tischnachbarin zu folgen. Es gelingt ihr, aber es kostet sie sehr viel Kraft und sie ist sehr schnell erschöpft. Lisa ist hochsensibel.

Franziska Niqélle kennt das Problem und die Symptome. Sie ist selbst hochsensibel und erklärt, wie sich das bei ihr zeigt und wie sie damit umgeht:
Ich wusste lange nicht, dass es Hochsensibilität gibt. Was ich wusste war, dass ich meine Umwelt intensiver wahrnehme als andere Menschen. Meine sinnliche Wahrnehmung war immer komplett offen und Reize strömten ungefiltert hindurch.

Wie reagierte ich auf Hochsensibilität?

Ich habe schneller auf Alarm geschaltet und konnte wichtige Informationen nicht mehr so leicht von unwichtigen unterscheiden. Ständig stand ich unter Dauerstress, war erschöpft, müde und brauchte mehr Zeit, um all die Erlebnisse, Gedanken und Reize zu verarbeiten. Doch diese Zeit habe ich mir nicht genommen.
Kommt Dir das auch alles bekannt vor?

Wie zeigt sich Hochsensibilität?

Dadurch, dass ich um dieses Thema lange nicht wusste, habe ich mir selbst nicht die Erlaubnis gegeben, zu ruhen und zu entspannen. Da ich die Symptome der Hochsensibilität nicht kannte, wusste ich auch nicht wirklich, wo meine Grenzen sind. So war ich, ohne es zu wollen, in einer anhaltenden Daueranspannung! Um das zu kaschieren, habe ich nicht unbedingt zu gesunden Möglichkeiten gegriffen, den Stress abzubauen. Stattdessen verweigerte ich mir sehr oft ausreichend Schlaf, weil ich nicht das geschafft habe, was ich schaffen wollte. Ich bin viel unterwegs gewesen, noch mehr ausgegangen und habe mich so unglaublich vielen Eindrücken ausgeliefert. Mein Körper hat sich dann aber irgendwann gemeldet und mir deutlich gezeigt, dass es so nicht mehr weitergeht. Es gab Tage, da war ich nach einer Mahlzeit und einem Treffen schon völlig hinüber und brauchte erstmal wieder zwei Tage, um aufzutanken. Eine anhaltende Müdigkeit und Erschöpfung begleitete meinen Alltag. Ich reagierte empfindlicher auf Licht, Düfte, Geräusche, Menschenansammlungen und Temperaturen.

Du bist nicht krank!

Mir war schnell klar, dass ich anscheinend psychisch instabiler war, und ich habe mich lange gefragt, woran das denn liegen könnte. Depression? Bipolare Störung? Aber nichts davon passte so richtig und so war ich lange Zeit auf der Suche nach etwas, womit ich meine Probleme besser einordnen kann.
Wichtig zu wissen ist: Hochsensibilität ist keine psychische Krankheit oder Persönlichkeitsstörung im klassischen Sinn. Eine Therapie wird hier also in der Regel nicht angeboten, insofern die Hochsensibilität nicht mit anderen Symptomen zusammen auftritt. Dies relativiert allerdings auf keinen Fall, dass Betroffene nicht darunter leiden oder ein Bedürfnis haben, mit dieser Eigenschaft gesünder umgehen zu wollen.

Weitere Merkmale meiner Hochsensibilität waren, dass ich Gespräche anderer Menschen in Restaurants und Bahnen nicht ausblenden konnte, ich musste mich sehr stark auf die Person fokussieren, mit der ich unterwegs war, jeder vorbeifahrende Radfahrer, jedes Geräusch, Kinder, Tiere – alles strömte auf einmal ein und konnte in diesen Momenten nicht gefiltert werden. Durch diese hohe Wahrnehmungs- und Auffassungsgabe merkte ich auch bei anderen schnell, wenn sich ihre Mimik, Gestik oder Tonalität veränderte, und registrierte sofort, wenn mein Gegenüber nervös, ängstlich, traurig oder aufgeregt war.

Wie oft habe ich es erlebt, dass ich gut gelaunt irgendwo hingegangen bin und dann in die Gesichter der Menschen gesehen habe, die voller Müdigkeit, Frust oder negativer Verstimmungen waren. Mir fiel es dann immer unglaublich schwer, meine Energie zu halten und sie zu schützen. Und so wurde ich dann auch nach kurzer Zeit müde und schlecht gelaunt, weil sich die Energie, die in der Luft lag, in mir ausbreitete und ich mich nicht genügend abgrenzen konnte.

Hochsensibilität erkennen

Wie wertvoll war es da für mich, als ich endlich erkannte, dass meine Gefühlswelt einen Namen hat! Als ich vor einigen Jahren auf das Thema Hochsensibilität gestoßen bin, habe ich sehr viel darüber gelesen. Die schweizerische Psychotherapeutin Antje Sabine Naegli hat für die Hochsensibilität folgende Definition:

„Hochsensible Menschen besitzen extrem feine Antennen, mit denen sie ihre Umgebung, andere Menschen und ihre Stimmungen wahrnehmen. Sie sind äußerst schwingungsfähig. Die innere Befindlichkeit anderer wird dabei genauso deutlich erfasst wie Stimmungen in der Natur oder eine Gestimmtheit, die etwa durch ein besonderes Musikstück verbreitet wird.“

Die Leseerfahrungen deckten sich in etwa mit meinen Erfahrungen. Ich habe mich mit anderen Menschen und Gleichgesinnten ausgetauscht und es half mir zu realisieren, dass alles gut ist. Es ist absolut nichts Schlimmes daran. Alleine das Bewusstsein darüber hat mir wahnsinnig weitergeholfen. Es brauchte einige Zeit, bis sich meine Perspektive änderte und ich es als ein unfassbares Geschenk und wunderschöne Gabe ansehen konnte. Mir meine eigenen Bedürfnisse zu erlauben und mich selbst so anzunehmen, war pure Erleichterung. Ich komme heute viel besser damit klar, wenn es auch mal müde, schlappe und schlechte Tage gibt, in denen meine Energie sehr niedrig ist – das ist okay und darf sein, ich verurteile mich nicht mehr dafür oder suche nach irgendwelchen Möglichkeiten, diesen Zustand zu bekämpfen.

Gesunden Umgang lernen

Was kann man tun, wenn man hochsensibel ist? Es gibt einige hilfreiche Möglichkeiten, sich nicht mehr von Sinnesreizen überschwemmen zu lassen.

Ein ganz wichtiger Schritt war für mich, zu lernen, NEIN zu sagen, mich abzugrenzen. In mich zu gehen und zu spüren, was ich wirklich will. Möchte ich mich mit der Person treffen? Nehme ich diesen Auftrag an, weil ich wirklich Lust dazu habe? Fühlt es sich stimmig für mich an? Oder würde ich es nur machen, um der Erwartungshaltung gerecht zu werden? Und das auch offen zu kommunizieren, mit seinen Freunden und der Familie. Viele hochsensible Menschen unter Euch kennen das – Euer Umfeld ist verwundert, warum man immer die Erste ist, die nach Hause geht, warum man die Party vielleicht schon um eins verlässt, obwohl die Stimmung super ist. Das sind alles Lernprozesse für mich gewesen und sind es immer noch, mich mitzuteilen, mir meinen Raum zu geben, aber dennoch meine Mitmenschen nicht zu verunsichern.

Neben genügend Schlaf ist es auch enorm wichtig, sich einen Rückzugsort zu schaffen, einen Ort, an dem man in Ruhe entspannen, einfach nur sein und in Meditation gehen kann. Oft in der Natur zu spazieren und Zeit am Wasser zu verbringen kann helfen. In die Weite zu schauen, sich mit Tieren zu umgeben und sich bewusst auf die Atmung zu konzentrieren – achtsam und tief zu atmen kann essentiell sein und für Entspannung sorgen. Wir neigen meist dazu, flach zu atmen oder den Atem, besonders bei Anspannung und Stress, eher anzuhalten. Dort mehr und mehr loszulassen und den Atemfluss wieder natürlich herzustellen, bewirkt wahre Wunder und bringt uns wieder mehr ins Urvertrauen und in eine Gelassenheit. Entspannte Musik, klassische oder bestimmte Frequenz-Sounds lassen Dich konzentrierter sein. Schließe auch öfter mal zwischendurch die Augen und gehe für einige Minuten in Dich, blicke bewusst in Dein Inneres und spüre nach, wie Du Dich fühlst. Ein regelmäßiger Check-In sollte Deine Priorität Nummer Eins sein.

Selbstbestimmt Leben und Lieben

Für mich ist es auch sehr kraftvoll, mir zwei bis drei Aufgaben pro Tag zu setzen und diese abzuarbeiten – statt mit meinen Sinnen überall zu sein, meine unendlich vielen Wünsche, Ziele und Interessen den ganzen Tag nebenbei ablaufen zu lassen, mir gesunde Prioritäten zu setzen. Mich jeden Morgen bewusst auf den Tag einzustellen, zu spüren, was für diesen Tag wichtig ist und gut geschafft werden kann. Nicht sofort auf alle WhatsApp- und Facebook-Nachrichten zu reagieren, sondern mir auch dafür bewusst Zeit zu nehmen und selbst zu bestimmen, wann ich diese Energien zulasse – immer darauf zu achten, wann es sich richtig anfühlt, um mich nicht vom Außen regieren zu lassen. Das ist eine Form der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung.

Gerade auch Hochsensibilität und Partnerschaft sollten so miteinander vereinbart werden, dass der betroffene Teil der Beziehung nicht darunter leidet und von zu vielen Eindrücken überfordert wird. Kommuniziere klar und verständlich, wo Deine Grenzen liegen! Deine Liebe kann sich so oder so nur dann ganz entfalten, wenn Du einschätzen kannst, wie viel Nähe Du zulassen kannst. Es sollte nur so viel sein, dass Du Dich auch tatsächlich damit wohl fühlst.

Wir leben in einer sehr schnellen, lauten und auch fordernden Welt, die viele Menschen erschöpft. Ein achtsamer Umgang ist wichtig. Wer die Hochsensibilität zulässt und lernt, diese im Alltag zu bewältigen, kann auch seine schöne Seiten erkennen. Betroffene sind keine Mimosen, sondern gehen empathisch durch die Welt, sind schneller berührt von ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. Das hat auch Vorteile.

Es ist so ein großes und wichtiges Thema, worüber ich noch einige Stunden mehr berichten und sprechen könnte. Bist Du auch hochsensibel und möchtest Dich mit Gleichgesinnten austauschen? Dann schreibe uns, nimm Kontakt auf und verbinde Dich mit uns.

Du erreichst uns per Mail unter:

info@realitybites.online

Wir freuen uns auf Dich!

Dein Team von reality bites.

Quellen:
Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg: Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Professur für Persönlichkeitspsychologie, Hochsensibilität (HSP) auf www.hsu-hh.de
Antje Sabine Naegeli: Zwischen Begabung und Verletzlichkeit – Leben mit Hochsensibilität, 2018

Credit: Jil Burrow